Neue Charta für mehr Sicherheit im öV
25 Jahre Kampf gegen Gewalt

Im Jahr 2000 kämpfte SEV-Gatu, die «Autonome Gruppe des städtischen Nahverkehrs» dafür, dass sich Unternehmen des öffentlichen (Nah)verkehrs in einer Charta mit den Sozialpartnern verpflichteten, ihr Personal vor und bei Übergriffen bestmöglich zu schützen – und dass solche Übergriffe als Straftat von Amtes wegen zu verfolgen sind. 25 Jahre später bekräftigt eine neue Charta, dass die Sicherheit des Personals hohe Priorität hat. Sie enthält auch die seit 2007 im Personenbeförderungsgesetzes (PBG) verankerte automatische Verfolgung solcher Übergriffe als Offizialdelikt. Ein Rückblick.
Seit den ersten Mobilisierungen zur Verbesserung der Sicherheit des Personals im öffentlichen Verkehr vor 25 Jahren bis heute ist schon viel erreicht worden, auch wenn noch viel zu tun bleibt.
1999 organisierte SEV-Gatu in Lausanne ein Forum zum Thema Aggressionen. Anwesend waren Vertreter von Polizei und Justiz sowie Gewerkschafter des städtischen Nahverkehrs von Montpellier, die dort mit akuten Problemen von Unhöflichkeit und Gewalt konfrontiert waren. Während der Debatten entstand die Idee, eine Charta zur Verbesserung der Sicherheit im öV zu verfassen. In unserer nächsten Ausgabe werden wir mit den Pionieren der Gatu – darunter Johan Pain, der als ihr «geistiger Vater» gilt – auf die Entstehung der Charta zurückkommen.
Die Charta vom Jahr 2000
Der Chartatext verpflichtet die Unternehmensleitungen und Gewerkschaftssektionen, dazu beizutragen, «die Risiken von Aggression und Gewaltanwendung zu vermindern. Zudem sollen die Gefühle der Unsicherheit bei den Fahrgästen und beim Personal abgebaut werden sowie allfälligen Opfern von Aggressionen und Gewalt die notwendige Unterstützung zukommen.» Und jedes Unternehmen soll eine paritätische Arbeitsgruppe schaffen: «Diese hat zur Aufgabe, Vorfälle von Aggression und Gewaltanwendung zu beobachten, zu analysieren und der Geschäftsleitung Umsetzungsvorschläge zu unterbreiten.» Zudem verpflichtet die Charta die Unterzeichnenden, mindestens einmal im Jahr zusammenzukommen, um Bilanz zu ziehen. Am 16. November 2000 unterzeichneten in Freiburg die ersten Unternehmen und Gewerkschaftssektionen die Charta. Weil die Busfahrer:innen der Romandie die Charta unterstützten, waren die ersten sechs Unterzeichner logischerweise die wichtigsten Verkehrsunternehmen der Romandie. Im Jahr 2002 stieg die Zahl der Unterzeichner sprunghaft auf fast 50 an, darunter zahlreiche Verkehrsunternehmen in der Deutschschweiz – beispielsweise in Bern und Zürich – und im Tessin. 2002 schlossen sich Bahnunternehmen wie die SBB, BLS oder SOB der Bewegung an, und 2005 folgten Schifffahrtsunternehmen wie die CGN.
Verfolgung von Amtes wegen
Am Schluss des Textes der Charta von 2000 steht dieser wichtige Satz: «Die Unterzeichnenden verpflichten sich – gemeinsam mit den Behörden und politischen Gremien – zu einer Auseinandersetzung mit dem Ziel, die Gesetzgebung dahingehend zu ändern, dass die moralische und körperliche Integrität des ÖV-Personals gestärkt wird.» Die Idee war, in die Schweizer Gesetzgebung einen Artikel aufzunehmen, der vorsieht, dass Angriffe auf das ÖV-Personal von Amtes wegen verfolgt werden, damit Angreifer:innen leichter verurteilt werden können.
Die SEV-Geschäftsleitung schlug den Freiburger Nationalrat Erwin Jutzet, der damals für den SEV als Anwalt tätig war, für die Einreichung einer Motion im Parlament vor – was Jutzet tat. In seiner Motion forderte er, dass körperliche oder verbale Angriffe auf das öV-Personal von Amtes wegen verfolgt werden sollen. Der politische und gewerkschaftliche Kampf dafür war lang und hart. Die Übergabe einer SEV-Petition mit fast 10 000 Unterschriften am 27. März 2006 an den Generalsekretär des Departements Uvek machte Eindruck. Das Personenbeförderungsgesetz (PBG) trat am 16. April 2007 in Kraft, wobei sein Artikel 58 die in der Motion geforderte automatische Strafverfolgung vorsah. Am 20. März 2009 wurde der Artikel 58 zum Artikel 59 PBG, wie wir ihn heute kennen. Er legt ausdrücklich fest, dass der Artikel 285 des Strafgesetzbuches, der bereits vorher für Angriffe auf Amtspersonen die Verfolgung von Amtes wegen vorsah, auch für das ÖV-Personal gilt. Einige Parlamentarier hatten dieses Argument vorgebracht, um die Motion als unnötig abzulehnen.
Wie wird das Gesetz angewendet?
Der Artikel 59 PBG brachte eine radikale Änderung: Angegriffene ÖV-Mitarbeitende müssen nun nicht mehr selbst Anzeige erstatten. Sobald ein Angriff stattgefunden hat, muss dieser lediglich den vor Ort zuständigen Strafverfolgungsbehörden gemeldet werden, und schon setzt sich die Justizmaschinerie in Gang. Die Gewerkschaft, das Unternehmen oder Kund:innen sind berechtigt, den Angriff anzuzeigen. Aber schnell stellte sich die Frage: Wird dieses Gesetz tatsächlich angewendet? Einige Unternehmen, die die Charta unterzeichnet haben, erstatten keine Anzeige von Amts wegen, insbesondere bei verbalen Angriffen. Der SEV und der VöV haben am 28. August in einem gemeinsamen Schreiben an die 26 kantonalen Staatsanwaltschaften ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Kantone das Gesetz allzu unterschiedlich anwenden, sei es aus Unsicherheit oder Unkenntnis.
Neue Charta
Aus all diesen Gründen und vor allem, weil die Charta vor dem Art. 59 PBG entstanden war, erschien es wichtig, den Text zu aktualisieren, ihn erneut unterzeichnen zu lassen und einen Tag zu organisieren, um sich auf bestmögliche Praktiken zu einigen und das 25-jährige Bestehen der Charta zu feiern. Dies ist am 25. November im Konferenzzentrum der Unia in Bern geplant.
Die neue Charta, die derzeit von den ÖV-Verkehrsunternehmen unterzeichnet wird, präzisiert in ihrer Präambel den rechtlichen Rahmen und den Artikel 59 PBG und weist ausdrücklich darauf hin, dass sie Gewalt gegen Frauen einbezieht. Die Begriffe Gewalt und Aggression werden besser definiert. Die neue Charta präzisiertauch, dass sich die paritätische Gruppe in jedem Unternehmen mindestens einmal pro Jahr treffen soll. Und dass die Unternehmen Übergriffe, die gemäss PBG von Amtes wegen verfolgt werden müssen, «systematisch» bei den Behörden anzeigen sollen, einschliesslich verbaler Aggressionen. Sie erinnert daran, wie wichtig es ist, sich an die Justizbehörden zu wenden, um die Einhaltung von Artikel 59 besser durchzusetzen. Und sie legt fest, dass sich alle Charta-Unterzeichnenden alle vier Jahre treffen sollen, um Bilanz zu ziehen. Möge das Treffen vom 25. November die Sicherheit unserer Kolleginnen und Kollegen einen wichtigen Schritt voranbringen!
Yves Sancey