Stopp Gewalt
Aggressionen (6) – auch im Tourismus: ein Mitglied erzählt

Sara (Name geändert) ist Zugbegleiterin mit fast 20 Jahren Berufserfahrung. Während 17 Jahren arbeitete sie für ein Konzessioniertes Transportunternehmen (KTU) in einem Tourismusgebiet. Heute ist sie bei der Zentralbahn tätig.
In den vergangenen Jahren stellte sie fest, dass sich die Stimmung bei den Fahrgästen verändert hatte. «Der Respekt ging verloren. Dafür hat seit der Pandemie egoistisches Verhalten zugenommen», berichtet sie. Dass sich Aggressionen von Fahrgästen nicht nur verbal äussern, sondern auch durch Tätlichkeiten, musste Sara schon am eigenen Leib erfahren. In einem Fall ging es um einen Streit zwischen Reisegruppen, einer chinesischen und einer südkoreanischen. Zwar habe die Weisung bestanden, Gruppen dieser Nationalitäten nicht im gleichen Waggon zu platzieren, was aber aus Platzgründen nicht immer möglich war. «Die Situation zwischen den Reisegruppen eskalierte. Ich versuchte zu vermitteln, bot sogar einen Gutschein an. Plötzlich kam der eine Tourguide auf mich zu und schlug mich ins Gesicht.» Was für Sara ein Schock war, blieb für den Täter folgenlos. «Ich meldete den Vorfall dem Arbeitgeber, erhielt aber nie eine Rückmeldung. Dafür wurde mir signalisiert, ich hätte provoziert.»
Einen noch krasseren Vorfall erlebte Sara Jahre später, als sie auf einen Mann ohne Billett traf. «Ich sagte ihm, er müsse entweder ein Billett kaufen oder bei der nächsten Haltestelle aussteigen. Er weigerte sich und wurde aggressiv. Plötzlich rang er mit mir – ich landete heftig auf dem Rücken, er stand über mir», erzählt sie. Dank dem Lokführer, der dazu kam, liess der Mann von ihr ab, während die anderen Fahrgäste nur zusahen. Sara zog sich Prellungen zu, aber keine bleibenden Schäden. Psychisch habe sie den Vorfall verarbeitet, indem sie mit ihrer Familie und dem Vorgesetzen darüber sprach. «Damals gab es noch kein Careteam. Das Motto lautete: Abhaken und weitermachen.»
Körperliche Angriffe blieben zum Glück die Ausnahme, dafür seien Beschimpfungen, Beleidigungen oder schlicht Ignoranz an der Tagesordnung. «Viele Fahrgäste, vor allem die Schweizer, sind sehr anspruchsvoll. Sie erwarten viel für ihr Ticket. Wenn etwas nicht passt – kein Sitzplatz, Verspätung, Gedränge –, wird sofort geschimpft», weiss Sara und ergänzt: «Internationale Gäste sind oft entspannter, aber auch dort gibt es Ausnahmen.»
Heute fühlt sie sich gut abgesichert. «Wir haben ein Careteam, das aus Kolleginnen und Kollegen besteht, die geschult sind und Unterstützung bieten. Bei Vorfällen machen wir eine ESQ-Meldung über Mobiletelefon oder Computer. Diese geht automatisch an die Transportpolizei (TPO). Je nachdem landet der Fall dann vor Gericht.» Besonders wichtig sei die technische Unterstützung. «Wir Zugbegleiter:innen haben ein Kontrollgerät mit Alarmknopf. Drücke ich ihn, wird sofort die TPO alarmiert, die dank GPS meinen Standort sieht und meist schnell reagiert.»
Trotzdem gebe es brenzlige Momente. «Vor kurzem traf ich auf zwei Männer, die in der 1. Klasse unter den Sitzen lagen. Ich weckte sie, forderte sie auf, ihre Billette vorzuweisen. Der eine beschimpfte mich wüst, der andere war verletzt. Ich rief sofort die TPO und dokumentierte alles.»
Sara wurde auch schon Zeugin rassistischer Äusserungen, wo in Brienz und Meiringen Einheimische Touristinnen und Touristen entsprechend beschimpften. «Auch in diesen Fällen erfasse ich eine Meldung und löse je nachdem Alarm aus.»
Sara erzählt, dass sich durch das Erlebte ihre Einstellung zur Sicherheit verändert hat: «Früher wollte ich alles durchsetzen, jedes Ticket kontrollieren, jede Regel einhalten. Heute sage ich mir: Meine Sicherheit geht vor.»
Eva Schmid