Stopp Gewalt
Aggressionen (3): Mitglieder erzählen
Als Teil der SEV-Kampagne «Stopp Gewalt – mehr Respekt für das Personal» berichten Mitglieder in der SEV-Zeitung, wie sie Übergriffe erlebt haben. Dies ist die dritte Folge dieser Serie.

Andreas (Name geändert) ist in den letzten 23 Jahren als Zugbegleiter bei einer Regionalbahn schon mehrfach beschimpft und physisch bedroht worden. In jedem Detail präsent ist ihm bis heute die Konfrontation mit einer Bande von Jugendlichen vor 17 Jahren, die damals in Regionalzügen ihr Unwesen trieben: Nachdem sie in einem Abteil Prospekte herumgeworfen und randaliert haben, blockieren sie Türen und lassen den Zug schliesslich gar nicht mehr wegfahren. Andreas und der Lokführer suchen mit ihnen das Gespräch, doch der Lokführer wird geschubst, eine Faust hebt sich, da setzt Andreas seinen Pfefferspray ein. Er flieht mit dem Lokführer in den Zug. Gegen diesen fliegen Steine und ein Fahrrad, bis er losfährt. Die Fahrt endet an einer Station, wo eine Polizeipatrouille wartet. Die Jugendlichen werden nicht gefunden, lassen danach aber die Züge in Ruhe. Andreas hat einen Schock, erhält psychologische Notfallbetreuung, muss der Arbeit ein paar Tage fernbleiben und arbeitet ein paar Wochen nur im Tagesdienst. Die Suva akzeptiert keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit, also wird der Vorfall als Bagatellunfall über die Krankenkasse abgerechnet.
Wutausbruch wegen 1 Franken 40
Schon drei Jahre zuvor hat Andreas das unerwartete Gewaltpotenzial eines biederen Familienvaters kennengelernt: Als er diesen höflich um die Nachzahlung von 1 Franken 40 für eine fehlende Zone im Billett bittet, putzt ihn der kräftige Mann vor Frau und Kindern lautstark herunter und kommt ihm bedrohlich nahe. Andreas bleibt ruhig, tritt einen Schritt zurück, besteht nicht auf der Nachzahlung. Er ruft auch nicht die Polizei, «den beiden herzigen Kindern und der Frau zuliebe, die die Differenz bezahlen wollte». Heute aber meldet er Aggressionen konsequent, und dazu gehören immer wieder unerwartete Angriffe ohne wirklichen Grund.
Zum Beispiel im letzten Herbst wurde er innert zwei Tagen gleich zweimal wüst beleidigt und bedroht: Bei einer Kontrolle in einem Regio-Express beschimpfte ihn ein Kunde als «Nazi-Kapo» und «Sturmbannführer», und am nächsten Tag warfen ihm zwei alkoholisierte junge Männer bei einer sporadischen Kontrolle Beleidigungen an den Kopf, und sein Kollege bekam einen Schlag auf die Brust. Mit Ruhe und Distanzwahrung konnten Andreas und seine Kollegen beide Male die Situation deeskalieren. Der erste Angreifer hatte offenbar persönliche Probleme. Im zweiten Fall hatte einer der beiden Männer seine Entlassung aus dem Gefängnis gefeiert, wie die Polizeieinvernahmen ergaben. In beiden Fällen war das Zugpersonal anscheinend Blitzableiter für angestauten Frust.
Andreas dünkt es, dass solche Angriffe aus dem Nichts in den letzten Jahren zugenommen haben. «Es gibt heute viele Leute, die frustriert sind und nichts zu verlieren haben. Zum Beispiel, weil sie vor einer Ausschaffung stehen, aber auch Schweizerinnen und Schweizer.» Er sieht heute Züge, in denen Kontrollen nur mit der Transportpolizei oder einem Sicherheitsdienst möglich sind, vor allem spätabends oder frühmorgens an Wochenenden. «Ich habe nach der Covidpandemie einmal bei einer Stichkontrolle in einem Regionalzug 30 Leute ohne Fahrausweis aufgeschrieben: Jung und Alt hatten keinen gültigen Fahrausweis. Regelmässige Kontrollen sind nötig, damit nicht die Anarchie ausbricht.» Das möchte Andreas den Bahnunternehmen ans Herz legen. Und dass sie dem Zugpersonal mehr Kurse mit Profis für Gewaltprävention, Selbstverteidigung, Psychologie, Gesprächsführung, Mimik, Gestik usw. anbieten. Denn die Anforderungen in diesem Beruf sind hoch.
Markus Fischer