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Vor 100 Jahren

Das Bahnunglück von San Paolo in Bellinzona 1924

Was nach dem Unglück vom 23. April 1924 von den beiden Schnellzügen übrigblieb. 15 Menschen starben. Foto: Fondazione Pellegrini Canevascini

Am 23. April 1924, nachts um 2.30 Uhr, ereignete sich beim Güterbahnhof San Paolo in Bellinzona ein tragisches Eisenbahnunglück: Zwei Züge stiessen frontal zusammen, was zu 15 Toten und Dutzenden von Verletzten führte. Auch 100 Jahre später ist dies noch immer das schwerste Eisenbahnunglück im Tessin.

Es war in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1924, als ein lauter Pfiff aus der Gegend von San Paolo ganz Bellinzona aufweckte. Es war sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert war, wie damalige Zeugen gegenüber der Presse berichteten. Zwei Personenzüge, einer aus Chiasso und einer aus Basel, waren zur gleichen Zeit auf dasselbe Gleis geleitet worden. Der Bahnhofinspektor von Bellinzona, Beniamino Arrigo, schilderte 1974 dem RSI-Journalisten Plinio Grossi den Ablauf so: «Ein grausames Schicksal wollte, dass sich zwei Züge im selben Augenblick an der einzigen kritischen Stelle des Bahnhofs treffen.»

Verkettung unglücklicher Umstände und Sicherheitsmängel

Zu jener Zeit waren die Bauarbeiten für den neuen Güterbahnhof San Paolo und die Anpassung des bestehenden Bahnhofs Bellinzona im Gange. Die SFF, wie die Bundesbahnen damals auf Italienisch hiessen, wollten ihn mit einem modernen elektrischen Stellwerk ausstatten. Da eine solche Anlage in der Schweiz noch nicht existierte, zogen sich die Arbeiten, die im Dezember 1920 begonnen wurden, länger hin als geplant und dauerten zum Zeitpunkt der Katastrophe noch an. Dies sowie unklare Vorschriften und Dienstanweisungen führten dazu, dass die provisorischen Sicherheitsmassnahmen zum Zeitpunkt des Unfalls unzureichend waren. So wurde die Weiche 1, über welche die von Norden einfahrenden Züge zum Hauptbahnhof oder zum Güterbahnhof geleitet werden konnten, noch von Hand bedient. Das Signal, das diesen Knotenpunkt schützte, war nicht mit einem Vorsignal ausgestattet, obwohl die Cheflokführer bereits 1921 auf die Gefahr hingewiesen hatten, die das mit sich brachte. Dies und weitere Faktoren führten zu einer erheblichen Gefahrensituation zwischen Weiche 1 und Weiche 3, dem Streckenabschnitt, wo sich die Katastrophe ereignete. Wie später bei der Untersuchung festgestellt wurde, kam noch menschliches Versagen dazu, was schliesslich zur Katastrophe führte: Wäre einer der beiden Züge auch nur um einige Sekunden verspätet oder früher angekommen, hätte es keinen Zusammenstoss gegeben.

Was also geschah? Der Schnellzug 51b aus Chiasso hatte Verspätung, der Schnellzug 70 aus Basel verkehrte regulär. Allerdings hätte in San Paolo vor diesem Schnellzug ein Güterzug einfahren sollen. Da letzterer aber verspätet war, erhielt der Schnellzug 70 bereits im Bahnhof Ambrì den Vorrang, doch wurden über den Überholvorgang nur die Bahnhöfe bis Biasca und nicht bis Bellinzona informiert. Da der Güterzug anstelle des Schnellzuges erwartet wurde, war die Weiche 1 entsprechend gestellt: Der Schnellzug 70 hielt nicht an und stiess mit dem 51b zusammen, der in diesem Moment vom Hauptbahnhof kommend in Richtung Castione unterwegs war.

Das Bild, das sich den Rettern bot, war grauenhaft, wie man der damaligen Presse entnehmen kann, die nicht mit makabren Details geizte. Beim Zusammenstoss der beiden Züge verkeilten sich die Lokomotiven und die ersten Wagen. Gas, das zur Beleuchtung eines deutschen Wagens verwendet wurde, strömte aus, fing Feuer und verursachte einen verheerenden Brand. Die Rettungs- und Aufräumarbeiten nahmen viel Zeit in Anspruch. Neben der Feuerwehr und dem medizinischen Personal wurden Eisenbahner aus allen Bereichen für die Rettungsarbeiten herangezogen. Mitarbeitende der Werkstätten zerlegten die damals neuen Elektroloks vor Ort, um möglichst viele wertvolle Bauteile zu bergen. Fünfzehn Menschen starben bei dem Unglück, darunter sechs Eisenbahner.

Zum Andenken an ihre beim Unglück umgekommenen Kollegen beauftragten die beim SEV organisierten Eisenbahner den Künstler Giuseppe Chiattone mit der Gestaltung eines Denkmals (siehe Foto), das am 17. April 1927 auf dem Piazzale Antognini in Anwesenheit von Tausenden von Menschen offiziell enthüllt wurde.

Obwohl sich die Sicherheitsvorschriften weiterentwickeln, sind tödliche Unfälle am Arbeitsplatz auch heute noch eine traurige Realität, auch bei der Bahn, wie uns die tragischen Unfälle der letzten Jahre leider in Erinnerung rufen. Für den SEV ist und bleibt die Bahnsicherheit ein vorrangiges Thema. Er vertritt stets die Haltung, dass zu deren Gewährleistung nicht nur die Mitarbeitenden, sondern auch die Unternehmen und die zuständigen Aufsichtsorgane alle möglichen Massnahmen ergreifen müssen.

Veronica Galster
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Das von den SEV-Eisenbahnern initiierte Denkmal zum Gedenken an ihre verunglückten Kollegen.