| Aktuell / SEV Zeitung, Aggression und Gewalt gegen Personal

Gewaltprävention

«Die Unternehmen sind gefordert.»

Giorgio Andreoli ist Sozialarbeiter und Friedens- bzw. Konfliktforscher. In den letzten Jahren hat er regelmässig Kurse zum Umgang mit gewalttätigen Situationen und zu Zivilcourage angeboten – unter anderem bei Movendo, dem Bildungsinstitut der Gewerkschaften. Vor 25 Jahren hat er das Präventionsprojekt «Gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus» mitgegründet.

Giorgio Andreoli, du beschäftigst dich seit über 25 Jahren mit Konfliktarbeit und Gewaltprävention im öffentlichen Raum, auch im öffentlichen Verkehr. Hast du in den letzten Jahren eine Zunahme von Aggressionen und Übergriffen beobachtet?

Teilnehmer:innen meiner Kurse berichten von einer steigenden Zahl von Übergriffen. Allerdings gab es bereits um die Jahrtausendwende Phasen erhöhter Gewalt. Man sprach damals von «Jugendgewalt», worauf zahlreiche Präventionsprojekte folgten, die Wirkung zeigten. Aktuell befinden wir uns in einer neuen Welle – verstärkt durch gesellschaftliche Spannungen.

Spielen deiner Meinung nach die Covidpandemie und die damit verbundenen Massnahmen eine Rolle?

Definitiv. Die Maskenpflicht und andere staatlichen Vorgaben führten zu neuen Konflikten. Viele Fahrgäste waren verunsichert oder missachteten die Regeln, was das Personal zwang, diese durchzusetzen, und was zu Konflikten führte. Dieser zusätzliche Stressfaktor hat die ohnehin vorhandene «kurze Zündschnur» noch einmal verkürzt.

Welche Faktoren tragen deiner Ansicht nach zusätzlich zu erhöhter Aggression bei?

Es sind mehrere: Die angespannte Weltlage, wirtschaftliche Unsicherheiten, die polarisierende Debatte um Rassismus und Diskriminierung – all das belastet die Menschen. Hinzu kommt, dass die Normen im öffentlichen Raum sich gewandelt haben: Wo früher eine Uniform noch Respekt schuf, ist das heute nicht mehr selbstverständlich. Viele sehen den öffentlichen Verkehr als Dienstleistung, für die sie bezahlt haben, und haben eine hohe Erwartungshaltung gegenüber dem Personal. Sie rechtfertigen so ihr Fehlverhalten.

Was wurde damals um die Jahrtausendwende gegen die Jugendgewalt unternommen, und was müsste heute getan werden?

Damals wurden zahlreiche Präventions- und Bildungsprojekte aufgelegt, die Jugendliche sensibilisierten und ihnen Angebote zur Konfliktlösung boten. Heute braucht es erneut breit angelegte Angebote: regelmässige Schulungen zur gewaltfreien Kommunikation, Rollenspiele und Deeskalationstrainings. Wichtig ist, dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst nicht nur einmal, sondern fortlaufend begleitet werden – sei es in Kursen oder durch internen Austausch im Team.

Was können Transportunternehmen konkret tun – auch kleinere Betriebe mit begrenzten finanziellen Ressourcen?

Grössere Unternehmen, die etwa ein eigenes Fortbildungszentrum besitzen, könnten ihre Kurse öffnen und Kapazitäten für kleinere Betriebe bereitstellen. Eine Vernetzung über Gewerkschaften oder Branchenverbände kann Skaleneffekte schaffen und Kosten senken. Wenn mehrere Betriebe gemeinsame Trainings organisieren, profitieren alle – und der Austausch zwischen den Teilnehmer:innen fördert zusätzliche Lerneffekte.

Wie gehst du in einer konkreten Situation mit verbaler Aggression um?

Ich rate, nicht sofort persönlich zu werden, sondern mit Sachlichkeit zu reagieren: Rückfragen stellen («Könnten Sie das bitte genauer erläutern?») und klare Grenzen aufzeigen («Das liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich.»). Dabei bleibt man auf Augenhöhe und verhindert, selbst aggressiv zu werden. Sollte die Stimmung weiter eskalieren, muss man Hilfe anfordern oder sich aus der Situation zurückziehen.

Und wenn es körperlich bedrohlich wird?

Dann gilt es, zunächst das eigene Umfeld und unbeteiligte Personen zu schützen und gegebenenfalls Notruf oder Alarm auszulösen.

Welche Nachsorge muss angeboten werden, damit Betroffene auch langfristig ein Erlebnis verarbeiten können?

Viele Unternehmen bieten Einzelcoachings oder Supervision an. Diese Angebote müssen systematisch und regelmässig erfolgen. Es geht darum, Akutstress zu verarbeiten und langfristig die eigene Resilienz zu stärken. Kleine Unternehmen sollten solche Unterstützungsleistungen ebenfalls ermöglichen – etwa durch Kooperationen mit externen Konflikttrainer:innen. Konfliktprävention und Nachsorge gehören untrennbar zusammen. Nur wer fortlaufend trainiert, sich austauscht und die eigenen Grenzen kennt, kann erfolgreich deeskalieren. Unternehmen, Verbände und Politik sind gefordert, entsprechende Strukturen zu fördern. Denn ein sicherer öffentlicher Raum ist für alle ein Gewinn.

Michael Spahr

Was passiert am 3. September 2025?

Gewalt gegen das Personal im öV beschäftigt uns beim SEV besonders. Wir haben beschlossen, dies zu einem zentralen Thema dieses Jahres zu machen. Der Kongress mit seinem spektakulären Transparent markierte den offiziellen Start dieser Kampagne für Respekt und Sicherheit. Der 25. November wird dem 25-jährigen Bestehen der Charta gegen Gewalt gewidmet sein. Wir hoffen, dass viele ÖV-Unternehmen die neue Charta unterzeichnen werden. Zweiter Höhepunkt ist der Aktionstag vor Ort, der am 3. September in der ganzen Schweiz stattfinden wird. Der SEV wird den 3. September jedes Jahr zum Tag des Engagements gegen Gewalt gegen das öV-Personal machen.

An diesem 3. September werden wir vor Ort Flugblätter verteilen, um einerseits Kundinnen und Kunden für das Problem zu sensibilisieren und sie um Respekt zu bitten gegenüber allen unseren Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Verkehr. Sie sind tagtäglich im Dienst der Mobilität tätig und verdienen Respekt. Wir tolerieren weder Beleidigungen noch verbale, sexuelle oder körperliche Gewalt.

Zum anderen werden wir auch unsere Mitglieder treffen, um Buttons und Armbänder mit der Aufschrift «Stopp Gewalt. Mehr Respekt für das Personal» sowie Karten mit dem Titel «Was tun bei Übergriffen?» zu verteilen. Wir werden sie darüber informieren, was nach einem Übergriff zu tun ist, insbesondere gegenüber dem Unternehmen und den Behörden.

Jedes Regionalsekretariat organisiert diesen Tag gemäss diesem Konzept mit lokalen Variationen, Erfahrungsberichten von Kolleginnen und Kollegen und in einigen Fällen mit Informationen für die Medien. Aktionen sind in Bern, Thun, St. Gallen, Lausanne, Genf, Locarno, Bellinzona und am Busbahnhof von Lugano geplant. Wenn Sektionen an diesem Tag etwas organisieren möchten, können sie sich an ein Regionalsekretariat wenden. Lasst uns gemeinsam die Gewalt zurückdrängen, um den öffentlichen Verkehr attraktiv und sicher zu machen!

Charta gegen Gewalt - 25. November 2025

Im Jahr 2000 unterzeichneten zahlreiche Transportunternehmungen die «Charta für die Verbesserung der Sicherheit im öffentlichen Verkehr» (Charta gegen Gewalt). Der SEV hatte diese Charta initiiert. Zum 25. Jubiläum hat der SEV diese Charta erneuert und legt sie den Transportunternehmungen zurzeit erneut zur Unterschrift vor. Am 25. November 2025 wird der SEV in Bern eine Jubiläumsveranstaltung zur Charta durchführen.