Frauenkommission
«Gleichstellung ist ein Prozess, kein Zustand»
Seit dem 1. September 2024 ist Sibylle Lustenberger als Gewerkschaftssekretärin für die SEV-Frauen und als Gleichstellungsbeauftragte des SEV tätig. Anlässlich des 40-Jahre-Jubiläums der SEV-Frauenkommission spricht die Sozialanthropologien über strukturelle Hürden, sexualisierte Gewalt und was es braucht, damit Gleichstellung im öffentlichen Verkehr kein Lippenbekenntnis bleibt.

Sibylle, die SEV-Frauenkommission feiert ihr 40-jähriges Bestehen. Wie steht es um die Frauen im ÖV-Sektor?
Die SEV-Frauenkommission besteht seit 1985 und wurde von Mitgliedern aufgebaut, die Missstände nicht länger hinnehmen wollten – fehlende Frauenuniformen, Umkleideräume, kein Zugang zu bestimmten Berufen etc. Vieles wurde seither erreicht, z. B. der Mutterschaftsurlaub und die Schaffung von Gleichstellungsstellen bei Unternehmen. Gleichstellung ist aber kein Zustand, sondern ein Prozess. Ohne kontinuierlichen Druck geraten viele Anliegen wieder in den Hintergrund.
Der Frauenanteil im öV liegt in der Schweiz aktuell bei rund 20 %. Damit stehen wir ähnlich da wie unsere Nachbarländer. Die grosse Frage lautet: Wie können wir mehr Frauen für diesen Sektor gewinnen und sie langfristig halten? Ein Beispiel dafür ist das EU-Projekt «Women in Rail». Die Schweiz ist mit SBB, BLS und dem SEV daran beteiligt. Ziel des Projekts ist es, über neun Handlungsfelder den Frauenanteil im Bahnsektor zu erhöhen. In der Schweiz entstand ein regelmässiger Austausch zwischen den Sozialpartner:innen, auch mit der SEV-Frauenkommission. Bei unseren Kommissionsmitgliedern bleibt jedoch das Gefühl, dass viele Massnahmen die Frauen draussen im Betrieb nicht erreichen. Sie werden von und für Leute entwickelt, die im Büro arbeiten. Lokführerinnen, Rangierinnen oder Zugbegleiterinnen werden damit kaum angesprochen.
Es gibt also noch viel zu tun...
Nach wie vor ist Lohngleichheit ein Top-Thema. Die Frauenkommission bringt am diesjährigen Kongress einen Antrag ein, um ausserberufliche Kompetenzen – etwa aus Familien- oder Care-Arbeit – bei der Lohneinstufung anzurechnen. Besonders betroffen sind Frauen, deren Berufsverläufe oft weniger linear sind. Mit dem SEV-Lohnteam arbeiten wir an konkreten Forderungen, die auf diesem Ansatz aufbauen. Viele der Themen, die wir heute in der Frauenkommission behandeln – bessere Teilzeitmodelle, Vereinbarkeit, sanitäre Infrastrukturen –, betreffen längst nicht mehr nur Frauen. Die Frauenkommission bleibt aber wichtig, um diesen Anliegen Gewicht zu verleihen. Sie ist ein Katalysator sowohl innerhalb als auch ausserhalb des SEV.
Ein leider immer noch aktuelles Thema ist Gewalt gegen Frauen. Schon meine Vorgängerin Lucie Waser hat sich hier stark engagiert, das Thema stets sichtbar gemacht. Eine aktuelle Studie im Auftrag des Eidgenössischen Gleichstellungsbüros und des Seco bestätigt: Frauen im Transport- und Informationssektor sind überproportional von sexualisierter Gewalt betroffen. Die meisten Übergriffe passieren auf gleicher Hierarchiestufe, gefolgt von Vorgesetzten und Kundschaft. Gewalt gegen Frauen im öV hat oft eine sexualisierte Komponente, was nicht heisst, dass nicht auch Männer Opfer werden können. Deshalb fordern wir von den Unternehmen, dass sie Vorfälle differenziert erfassen – und spezifische Massnahmen für besonders verletzliche Gruppen erarbeiten. Auch der SEV ist hier aktiv: Gemeinsam mit Präsident Matthias Hartwich haben wir ein Papier für den Kongress vorbereitet, das «Null Toleranz gegenüber sexueller Gewalt» an SEV-Anlässen fordert. Dazu gehören auch Ansprechpersonen, die vor Ort präsent sein werden.
Wie gewinnen wir mehr Frauen für gewerkschaftliches Engagement in einem traditionell männlich geprägten Umfeld?
Es bringt wenig, mehr Frauen als Mitglieder zu gewinnen, ohne gleichzeitig Strukturen zu schaffen, in denen sie sich wiederfinden. Gewerkschaften müssen sich mit den Themen beschäftigen, die Frauen betreffen. Ein Grossteil der Frauen sieht sich als Arbeiterinnen mit den gleichen Anliegen wie ihre Kollegen: gute Löhne, kein Personalabbau etc.
Wir versuchen auf mehreren Ebenen, Frauen für das gewerkschaftliche Engagement zu gewinnen und ihnen Raum zu geben: mit Kampagnen, Netzwerktreffen und Bildungstagen. Im SEV kann ich kreativ sein, neue Ideen und Formate entwickeln. Das schätze ich enorm. Hier spüre ich auch die Unterstützung der Geschäftsleitung und das Interesse der Kolleg:innen, z. B. mit Blick auf eine engere kommissionenübergreifende Zusammenarbeit.
An der Jubiläumstagung der SEV-Frauentagung vom 28. November werden wir von Pionierinnen hören, was sie erlebt haben und mit welchen Mitteln sie konkrete Verbesserungen erreichen konnten.
Eva Schmid