Aggressionen: Kolleginnen erzählen
Als Teil der SEV-Kampagne zur Sensibilisierung für die seit Jahren allzu häufigen Aggressionen gegen Verkehrsangestellte berichten Mitglieder in der SEV-Zeitung, wie sie Übergriffe erlebt haben. In diesem ersten Artikel kommen zwei Zugbegleiterinnen zu Wort.

Monika (Name geändert) wurde vor acht Jahren verbal massiv angegriffen: Als sich ihr IR an einem Nachmittag einem Bahnhof nähert, geht sie durch ein Abteil Richtung Tür, da kommt ein Kunde (ca. 35–40-jährig), der bei der Kontrolle unauffällig geblieben war, plötzlich auf sie zu, betitelt sie mit allerlei Schimpfwörtern und spuckt sie an. Zum Glück trifft er «nur» den Schal. Sie verlangt von ihm einen Ausweis. Er flieht aus dem Zug. Monika fertigt den Zug ab, steigt ein, informiert den zweiten Kundenbegleiter über den Vorfall und wäscht sich in der Zugtoilette. Rund 15 Minuten später am Endbahnhof kümmert sich der Kollege um sie und empfiehlt ihr heimzugehen statt noch 20 Minuten Kundenlenkung zu machen. Sie ist froh, in der Garderobe duschen zu können, und macht eine ESQ-Meldung. Der Vorgesetzte meldet sich noch am gleichen Tag und erstattet Anzeige bei der Polizei. Der Täter, der wohl eine Substanz intus hatte, wird zwar nicht gefunden, aber ansonsten ist Monika mit der Behandlung ihres «Falls» zufrieden. Schon am nächsten Tag arbeitet sie wieder, schaut aber zwei Monate lang im Zug öfters über die Schulter, ob ihr jemand folgt, vor allem zwischen den Wagen.
Drei Jahre später, nach dem Wechsel von der SBB zu einer anderen Bahn, kontrolliert Monika an einem heiterhellen Nachmittag einen Kunden (ca. 30), der die Schuhe auf dem Sitz und kein Billett hat. Da er laut motzt, weist sie ihn ohne Busse nur höflich zurecht, um eine Eskalation zu vermeiden. Als sie am Endbahnhof aussteigt, taucht er plötzlich vor ihr auf, hält sie zwischen seinen Händen gegen den Zug gefangen und beschimpft sie. Sie bleibt möglichst ruhig und sieht den vorbeigehenden Teamleiter fix an, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. So realisiert er ihre Situation, kommt herbei und ruft die Transportpolizei an, worauf der Kunde flieht. Die TPO kann ihn fassen und fragt Monika, ob sie Anzeige machen wolle. Sie bejaht und bittet um Einvernahme in einem Raum der Bahn, ohne Täter in der Nähe. Der Teamleiter bleibt trotz Feierabend vor Ort und macht mit ihr ein Debriefing. In der Zeit danach arbeitet sie normal weiter, aber zuerst nicht mehr mit der gleichen Selbstsicherheit. Weitere Gespräche mit dem Teamleiter helfen ihr. Sie ist froh, dass der Täter bestraft wurde. Enttäuscht hat sie der höhere Vorgesetzte, der die Anzeige übertrieben fand; doch der Teamleiter hat sie unterstützt. Heute ist sie Zugverkehrsleiterin, hat den Beruf aber nicht wegen der Angriffe gewechselt.
Patrizia (59, Name geändert) ist seit fast zehn Jahren Kundenbegleiterin bei der SBB, als sie im Sommer 2022 an einem Sonntagmorgen bei einer Zugräumung mithilft. Ein WC ist verschlossen. Nach mehreren Minuten kommt endlich ein Mann raus, der wohl Drogen oder Alkohol im Blut hat. Sie will ihm mit der Hand den Weg nach draussen zeigen und touchiert dabei seine Jacke. Da packt er sie und drängt sie auf der Plattform in eine Ecke. Der etwa 35-Jährige ist viel grösser und stärker als sie. Mehrmals sagt sie, er solle loslassen, dann schlägt sie ihm die Faust in den Bauch, kommt los und flieht ins Abteil. Er folgt ihr, doch als sie mit der TPO telefoniert und ihr Kollege dazukommt, beruhigt er sich und lässt sich von Sicherheitsleuten abführen. Sie fährt danach die Tour zum Depotstandort fertig. «Ich wollte vor allem heim und war erzogen worden, Dinge durchzuziehen. Den Servicegang, Durchsagen und Zugabfertigungen konnte ich noch machen, Billettkontrollen aber nicht mehr.» Sie schreibt eine ESQ-Meldung und sagt dem Vorgesetzten, der später anruft, dass sie die drei Arbeitstage bis zu den Ferien leisten könne. Obwohl am nächsten Tag ihr ganzer Körper schmerzt, wohl wegen dem Adrenalin, geht sie arbeiten, macht aber Kontrollen nur zu zweit. Auch nach den zwei Ferienwochen ist sie bei Kontrollen lange nicht mehr gleich sicher wie vorher.
Im Dezember wird sie von einem Kunden ohne Fahrausweis aufs unflätigste beschimpft, weil sie ihm nur für eine einfache Fahrt ein Billett ausstellt statt für eine Retourfahrt. Sie ruft die TPO an, die den etwa 55-Jährigen am nächsten Bahnhof abholt. Er wird später für den Angriff zu einer Busse verurteilt.
Auch davon erholt sich Patrizia wieder und trifft im Januar 2023 an einem Samstagmorgen auf einen etwa 40-Jährigen ohne Fahrausweis, der aus dem Ausgang kommt. Er fragt frech, wo denn geschrieben stehe, dass im Fernverkehr Billettpflicht gelte, und verweigert die Angabe von Personendaten. Schliesslich zahlt er die 90 Franken per Kreditkarte, doch als sie ihm die Quittung gibt, nähert er sich ihrem Gesicht auf fünf Zentimeter und schielt zum Kunden gegenüber, den sie später als Zeugen notieren darf. Dann verlässt er das Abteil, der Zug hält und er steigt aus. Beim Abfertigen sieht sie ihn plötzlich herbeieilen. Sie flieht in den Zug, schliesst die Tür. Er reisst daran, bringt sie nicht mehr auf und schlägt dagegen. Patrizia zittert am ganzen Leib, fährt die Tour aber noch fertig. Trotz ESQ-Meldung hört sie vom Vorgesetzten nichts, ruft ihn am Sonntag an und informiert ihn, dass sie am Montag nicht arbeiten kann. Sie fühlt sich so schlecht, dass sie zum Arzt geht, der sie für einen Monat krankschreibt. Sie schläft eine ganze Woche und braucht Monate, bis sie wieder ohne Angst Zugfahren kann. Nach etwa drei Monaten beginnt sie wieder zu arbeiten. Die zugewiesene administrative Aufgabe tut ihr gut, daneben geht sie monatlich zum Arzt, macht eine Therapie und bewirbt sich bei der SBB für eine Zweitausbildung. Da sie sich von ihrer Case-Managerin nicht gut unterstützt fühlt, lässt sie sich durch den SEV-Rechtsschutz begleiten. Schliesslich findet sie eine Lehrstelle als Kundenberaterin, aber drei Zugstunden entfernt vom Ort, wo sie mit ihrem Partner lebt. So wird sie Wochenaufenthalterin. Die Lehre gefällt ihr gut und sie ist froh, wieder eine Stelle zu haben.
Dass die Strafverfahren nach der ersten und dritten Aggression eingestellt wurden, kann Patrizia nicht verstehen, denn diese Angriffe haben ihr Leben stark verändert. Die Untersuchungsbehörden hielten diese offenbar für nicht so schlimm, weil sie danach weitergearbeitet hatte. Darum würde sie dies heute nicht mehr tun. Und sie würde aus heutiger Sicht auch früher zum Arzt gehen.
Markus Fischer
Kommentare
Meier 29/05/2025 18:13:53
Hallo Kundenbegleiter
Hab diese Kundenreaktionen gelesen.
Es verwundert mich gar nicht, dass die Unterstützung von den Vorgesetzten ausbleibt und der Betroffene keine Unterstützung bekommt,sondern nur ein müdes lächeln, dem betroffene entgegen kommt. Ich war 30 Jahre Zugbegleiter hatte nie eine Unterstützung, es war immer am Betroffenen der den Konflikt provoziert hat. In der Hierarchiestufe will doch keiner die Finger verbrennen an dir. Es hat sich nie was geändert von oben herab. Als Privatperson ist das ein no go, da hast du Rechte, als Firmenvertreter hast du keine Rechte.
Ihr müsst mit dem Leben und weitermachen.
Gruss
Meier Martin