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SBB Cargo: Meine Meinung zu «G-enesis»

Als «klares Bekenntnis zum nachhaltigen Wagenladungsverkehr» wertete SBB-Cargo-CEO Nicolas Perrin am 20. April 2012 die Einweihung des Terminals in Cadenazzo. Nun will Cargo diesen aufgeben. © SBB / Bernhard Lochmatter

Das sagen Vertreter:innen der SEV-Unterverbände, Cargo-Mitarbeitende und Gewerkschaftssekretäre zu den Reorganisationen, die bei SBB Cargo schon laufen oder unter dem Titel «G-enesis» geplant sind.

Auch nach der Meinung gefragt haben wir die Präsidentin des Vereins Pro Alps (vormals Alpen-Initiative). Dieser setzt sich seit Jahren für die Verkehrsverlagerung auf die Schiene ein.

Christian Eichenberger, Vizezentralpräsident des Unterverbands des Rangierpersonals (RPV): Ich bin sehr besorgt über die jetzige Reorganisation von SBB Cargo. Diese ist anders als die in der Vergangenheit – und ich habe doch schon einige erlebt. Niemand weiss, ob er/sie in Zukunft die Arbeitsstelle behalten kann oder der Reorganisation zum Opfer fällt. Dies führt zu Existenzängsten. Die Kunden von SBB Cargo auf die Strasse oder zur Konkurrenz zu drängen, weil sie den geforderten Preis nicht bezahlen können bzw. wollen, ist der falsche Weg. Wo bleibt die Umsetzung des Volkswillens, dass die Güter auf die Schiene zu verlagern sind?

Hanny Weissmüller, Zentralpräsidentin des Unterverbands des Lokomotivpersonals (LPV): Der Abbau bei SBB Cargo ist eine beunruhigende Entwicklung, die weder denInteressen der Bevölkerung entspricht noch dem langfristigen Ziel der Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene. Es scheint, als ob die Reorganisationen im Eiltempo vorangetrieben werden, ohne die schwerwiegenden Konsequenzen für das Bahnwissen zu berücksichtigen. Dieses Wissen ist ein wertvoller Schatz, der, einmal verloren, nicht schnell wieder aufgebaut werden kann. Die laufenden Reorganisationen bei Cargo führen nicht nur zu einem Verlust von Arbeitsplätzen, sondern gefährden auch das Know-how und die Effizienz des Bahnbetriebs. Die bisherigen Auswirkungen sind bereits spürbar, und es ist zu erwarten, dass sich die Situation weiter verschlechtert, wenn der Abbau nicht gestoppt wird.
Als Gewerkschaft SEV-LPV fordern wir von der Leitung von SBB Cargo eine klare Strategie, die den Erhalt von Arbeitsplätzen und Wissen priorisiert und auf die langfristige Nachhaltigkeit des Schienenverkehrs setzt. Wir erwarten Transparenz und eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Mitarbeitenden und der Öffentlichkeit. Ist der Abbau tatsächlich der richtige Weg, um die Zukunft der Bahn zu sichern? Oder sollte nicht vielmehr in den Ausbau und die Stärkung von SBB Cargo investiert werden, um den Verkehr effizienter und umweltfreundlicher zu gestalten?

Fabio Morandi, Präsident RPV-Sektion Südostschweiz: In meinen acht Jahren bei SBB Cargo ist dies bereits die dritte Umstrukturierung, die ich aktiv miterlebe. Meine Kolleginnen, Kollegen und ich wissen längst nicht mehr, wohin sich SBB Cargo entwickeln soll. Die Rahmenbedingungen sind überall in Europa vergleichbar: LKW-Verkehr gibt es in jedem Land, Industrie ebenso, und auch Kunden sind vorhanden. Dennoch wird der Schienengüterverkehr fast überall zurückgebaut, weil er kaum gewinnbringend betrieben werden kann. DB Cargo fährt einen massiven Sparkurs, und Bahnen wie DSB oder NS haben ihr Wagenladungsverkehr-Netz weitgehend aufgegeben. Sie bedienen nur noch Grosskunden oder Transitverkehre. Überall wird redimensioniert – nur in der Schweiz lautet die Botschaft: Wir schaffen das und können Geld verdienen. Aus meiner Sicht bleibt das eine Utopie.
Was wir bräuchten, wäre ein klares Ziel der Geschäftsleitung – verbunden mit einem realistischen Masterplan, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Derzeit fühlen sich die Mitarbeitenden weder wertgeschätzt noch abgeholt, sondern vielmehr wie das Problem, das es zu lösen gilt. In den Pausenräumen höre ich häufig, dass jüngere Kolleginnen und Kollegen zu privaten Anbietern abwandern, da eine Anstellung bei SBB Cargo nicht mehr als zukunftssicher wahrgenommen wird. Gerade für Nachwuchskräfte ist die Perspektive unklar: Niemand weiss, ob man in Kürze nicht versetzt wird – in ein anderes Team, an einen entfernten Arbeitsort oder in eine Funktion, die zwar gemäss GAV «zumutbar» wäre, für das persönliche Umfeld jedoch eine erhebliche Belastung darstellt.
Auch Weiterentwicklungsmöglichkeiten fehlen: Ein Ai40 kann kein B100 machen, und ein B100 keine B-Ausbildung. Damit stellt sich die Frage: Wie will SBB Cargo künftig noch motivierte neue Mitarbeitende gewinnen, wenn ihnen keinerlei Perspektiven geboten werden?

Vincent Bovier, Vertreter der TS-Sektion Romandie in der Delegiertenversammlung des SEV-Unterverbands Technisches Servicepersonal (TS), Lokführer B100 und Ausbildner Cargo/Infra: Die bei Cargo laufenden Reorganisationen verunsichern die Mitarbeitenden stark. Die Neudefinition der Rollen, der Verlust von Orientierungspunkten und die Angst vor unerwünschten Veränderungen der Arbeitsplätze destabilisieren den Alltag und können die Motivation und das Engagement untergraben. Bei mangelnder Kommunikation verstärken diese Veränderungen die internen Spannungen und den seit Jahren bestehenden Eindruck einer «permanenten Reorganisation». Die wiederholten Restrukturierungen haben auch immer wieder zu Unterbeständen geführt, die den verbleibenden Mitarbeitenden zusätzliche Arbeitslast und ständigen Stress brachten.
Von der Leitung erwarte ich, dass sie klar, regelmässig und transparent über die Ziele, Prioritäten, Etappen und die erwarteten Vorteile der Umstrukturierungen informiert, um wieder Sinn zu stiften. Und dass sie das Personal motiviert, indem sie die geleistete Arbeit wertschätzt, Kompetenzen anerkennt und für ein Klima des Vertrauens sorgt. Zusammenfassend erwarte ich eine Führung, die visionär und basisnah ist und auf die Mitarbeitenden eingeht.

Ewald Berchtold, Mitglied LPV Ticino und Lokführer B in Bellinzona: In meinen 35 Jahren als Lokführer am Gotthard habe ich einen steten Niedergang des Güterverkehrs der SBB erlebt. Zuerst gingen mit dem Open Access Verkehre an andere Bahnen verloren. Dann wurden vor 15 Jahren der nationale und der internationale Güterverkehr getrennt, was die Produktion verteuerte. Zuerst wurden noch Lokführer national und international ausgetauscht, doch seit zwei Jahren wird kaum mehr zusammengearbeitet. Zusätzlich wurden die nationalen Züge in solche mit oder ohne digitale automatische Kupplung aufgeteilt, was die Produktion nochmals komplizierter machte. Nun fallen per Ende Jahr die täglich acht Zugpaare weg, die SBB Cargo bisher für DB Cargo geführt hat, und die meisten KV-Züge ab Cadenazzo und Lugano Vedeggio. Damit gehen weitere Deckungsbeiträge und Synergien verloren. Und der Wagenladungsverkehr schrumpft wegen der Preiserhöhungen weiter, was betriebswirtschaftlich schlecht ist, denn viele Kosten sind fix. Falls die Bahn konkurrenzfähig bleiben will, muss sie ein gewisses Angebot und Volumen aufrechterhalten, sonst führt die Abwärtsspirale zum Tod. Letztlich hat SBB Cargo von der Politik einen Verlagerungsauftrag und muss nicht sofort schwarze Zahlen schreiben. Vor der Ära Muhm waren wir arm, hatten aber Kunden, nun verlieren wird die Kunden und gehen pleite.

Philipp Hadorn, Gewerkschaftssekretär und Leiter Team Cargo beim SEV: SBB Cargo wählt erneut den reaktiven Weg. Die Verantwortlichen sind ausgewechselt, aber die Ideen bleiben etwa die Alten: vereinfachte Produktion, Abschied von nicht kostendeckenden Leistungen, Versuch zur Kostenüberwälzung auf die Kunden. Auch der Eigner wählt den reaktiven Weg: nochmals eine Geldspritze, verbunden mit der Auflage, dass in wenigen Jahren das Geschäft eigenwirtschaftlich funktionieren soll. Und die SBB scheint SBB Cargo nahezulegen, dass rentable Konzernaufgaben im Fokus sind. Das BAV scheint der Idee eines Wettbewerbes zu frönen, in einem Markt, der nie aus eigener Kraft nachhaltige Innovation zulassen kann. Es wäre an der Zeit, ehrlich zu werden: Eigenwirtschaftlichkeit beim Einzelwagenladungsverkehr wird nie möglich sein. EWLV ist aber ein Eckstein für eine erfolgreiche Verlagerungspolitik, und eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung will die Güter so weit wie möglich weg von der Strasse. Flankiert von gesetzlichen Verlagerungsauflagen soll das Preisschild fair sein und die Kosten sind abzugelten. Jetzt voreilig bereits vernachlässigte (Infra-)Strukturen, Angebote und vorhandenes Know-how (Stellen) aufzugeben wäre ein irreversibler Verlust für Mitarbeitende, die Logistik, die Verkehrspolitik und die Umwelt.

Thomas Giedemann, Gewerkschaftssekretär, zuständig für SBB Cargo im Tessin: G-enesis ist ein Projekt, das gegenüber Personal und Kunden improvisiert umgesetzt wird. Zum Beispiel wurde im Mai angekündigt, den Terminal in Cadenazzo zu schliessen, weil er unrentabel sei, obwohl er ausgelastet ist und das Personal sich alle Mühe gibt, die Kunden zufriedenzustellen – allen voran die Post, die dort ihre Logistik für das nahegelegene Verarbeitungszentrum untergebracht hat. Die Kunden erfahren die Nachricht aus der Presse. Einige Wochen später wird kommuniziert, dass über den Verkauf von Cadenazzo an Private verhandelt wird. Und was könnten diese besser machen? Nichts, ausser dass ihr Personal keinen GAV SBB Cargo hat, der in den Augen der Cargo-Leitung ein Luxus zu sein scheint. Aber das ist noch nicht alles. SBB Cargo lehnt Aufträge ab, wie zum Beispiel jene im Zusammenhang mit dem Bau der zweiten Strassentunnelröhre durch den Gotthard, ohne an die Folgen für die Mitarbeitenden zu denken. Das Lokpersonal im Tessin hat keine Arbeit mehr? Kein Problem, es kann nördlich der Alpen arbeiten, wo Personal fehlt. Die SBB wiederholt ständig, dass sie sich an den GAV halte. Das ist aber selbstverständlich! Gefragt ist jetzt zusätzliche soziale Verantwortung.

Patrick Kummer, Vizepräsident SEV, Leiter der Verhandlungsgemeinschaft gegenüber SBB: Die Situation bei SBB-Cargo zeigt deutlich, wie anspruchsvoll die Rahmenbedingungen im Schienengüterverkehr derzeit sind. Die Politik ist gefordert, diese so zu gestalten, dass der Schienengüterverkehr gestärkt wird und seine volkswirtschaftliche wie auch ökologische Bedeutung gesichert bleibt.
Für den SEV steht dabei der Schutz der Mitarbeitenden im Zentrum. Der Gesamtarbeitsvertrag (GAV) bietet Sicherheit in einer Branche, die sich in einem tiefgreifenden Wandel befindet. Mit Sorge sehen wir, dass durch Abbau nicht nur wertvolles Know-how verloren geht, sondern auch ein Teil des Berufsstolzes, der die Kolleginnen und Kollegen von SBB-Cargo lange ausgezeichnet hat. Beides ist jedoch unverzichtbar für eine erfolgreiche Zukunft des Unternehmens.
Der Schienengüterverkehr in der Schweiz, und damit auch SBB Cargo, muss eine Perspektive haben. Politik und Unternehmen tragen gemeinsam Verantwortung: Arbeitsplätze und Know-how müssen geschützt, die Mit-arbeitenden gestärkt und die Zukunft des Güterverkehrs auf der Schiene gesichert werden.

Nara Valsangiacomo, Präsidentin des Vereins Pro Alps: Die SBB will den Schienengüterverkehr in der Schweiz drastisch reduzieren: Die Rollende Landstrasse (Rola) wird frühzeitig stillgelegt, mehrere Terminals des kombinierten Verkehrs werden geschlossen, und auch der Einzelwagenladungsverkehr (EWLV) soll massiv abgebaut werden. Das bedeutet, dass künftig noch mehr Güter auf der Strasse transportiert werden statt auf der umweltfreundlicheren Schiene – ein Skandal. Die Politik schaut dabei bislang tatenlos zu. Es fehlt an Weitsicht, und Bundesrat und Parlament missachten damit den Verfassungsauftrag zum Schutz der Alpen vor dem Verkehr.
Als Tessinerin mache ich mir zudem Sorgen über die drastischen Auswirkungen auf unseren Kanton und das Mendrisiotto, denn es droht zusätzlicher Schwerverkehr in einer bereits stark betroffenen Region und zugleich ein erheblicher Verlust von Arbeitsplätzen.
Zusammen mit den Betroffenen haben wir an der Protestaktion vom 29. August gegen diesen Kahlschlag der SBB ein Zeichen gesetzt. Es ist höchste Zeit zu handeln, damit die Alpen nicht von einer zusätzlichen Lastwagenflut überrollt werden!

Markus Fischer

Gespräche bei/mit Bundesrat Albert Rösti

Nach dem eindrücklichen Auftritt von Cargo-Mitarbeitenden am SEV-Kongress im Beisein von Bundesrat Rösti und weiteren Aktivitäten, die auf die Gefahr für SBB Cargo hinwiesen, hat es inzwischen zwei Gespräche mit Bundesrat Rösti und seinem Team zu diesem so schwierigen Thema gegeben. Das zeigt, dass auch der Bundesrat und das BAV sich bewusst sind, wie ernst die Lage ist.