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Stopp Gewalt

Aggressionen (2): Mitglieder erzählen

SEV-Mitglieder erzählen von Übergriffen und Aggressionen, die sie im Alltag erleben. In diesem zweiten Artikel sprechen ein Mitarbeiter aus der Schifffahrt und eine Buschauffeurin über die tägliche Gewalt.

Lionel Parian ist seit Jahren Kapitän auf den Genfer Mouettes und Gewerkschaftsvertreter. Im vergangenen Sommer wurde er Opfer einer Aggression, die knapp nicht in Tätlichkeiten ausartete. Der Vorfall fing damit an, dass ein Mann sehr nahe bei der Treibstofftankstelle der Fähren parkierte. Er stieg aus und machte einen ziemlich angetrunkenen Eindruck. Lionel sah dies, war aber nicht sehr beunruhigt. Plötzlich öffnete der Mann die Kette, die den Zugang zum Schiffsteg blockiert. Lionel stieg aus und befestigte die Kette wieder, aber der Mann öffnete sie erneut und verschwand dann. Als Lionel nach seiner Fahrt zur Anlegestelle zurückkam und anlegte, wurde er von diesem Mann beschimpft. Er reagierte nicht auf die Provokationen und ging in Richtung des Pausenraums. Der Mann stellte sich ihm in den Weg, Lionel ging weiter und wurde vom Angreifer verfolgt, der drohte, die Flasche in seiner Hand zu zerbrechen und ihn damit zu schlagen.

Als Lionel aus dem Pausenraum kam, folgte ihm der Mann auf der Strasse und wurde immer aggressiver. Mit seiner Geduld am Ende rief Lionel seine Chefin an, da er eine Eskalation der Situation befürchtete. Die Polizei wurde daraufhin mehrmals angerufen. Zurück am Steg nahm der Mann einen Schraubenzieher, um die Zugangstür zum Steg aufzubrechen, was ihm jedoch nicht gelang. Er sprayte Beleidigungen und schlug mit einem Baseballschläger gegen die Scheibe.

Lionel ging wieder auf das Schiff und fuhr weg. Als er zurückkehrte, war der Mann von der Polizei umringt und wurde festgenommen. Er war den Beamten bekannt, geistig verwirrt, in einer Institution lebend und an diesem Abend betrunken. Die Polizei machte Lionel klar, dass es sich nicht lohne, Anzeige zu erstatten. Diese werde nicht weiterverfolgt, sagte sie, da der Mann nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Sie ignorierte somit Artikel 59 PBG, wonach Straftaten von Amtes wegen verfolgt werden. Im Kofferraum des Autos fand die Polizei Messer und ein Beil. Es hätte also weitaus schlimmer kommen können. Da Lionel schon andere Angriffe erlebt hat, war er nicht besonders beeindruckt, auch wenn er zugibt, «dass es trotzdem brutal war, auch die Festnahme». Seine Kolleg:innen waren sehr schockiert und wollten alle Details wissen, damit sich so etwas nicht wiederholt oder sie sehr schnell handeln können. Als das Unternehmen auf Anraten des SEV Anzeige erstatten wollte, ignorierte die Polizei erneut Art. 59 PBG und sagte wieder, das sei nicht möglich. Lionel wurde krank – nicht wegen des Übergriffs – und konnte daher einen weiteren Termin mit der Polizei nicht wahrnehmen. Der Fall wurde an diesem Punkt blockiert. Lionel hätte sich eine interne Kommunikation gewünscht oder dass die Sicherheitsprozesse geklärt werden. Dies war nicht der Fall. Auch Workshops oder Trainingsmodule, wie man mit solchen Situationen umgeht, wären für ihn hilfreich. «Ruhig und bestimmt zu bleiben, kann man lernen. Die Geschäftsleitung und das Personalmanagement sollten auch besser über die rechtlichen Möglichkeiten bei Angriffen auf das Personal informiert sein, schon allein, damit sich dieses etwas besser geschützt zu fühlt.»

Amanda (Name geändert) ist in ihren Dreissigern und Buschauffeuse in einer Unternehmung der Westschweiz. Sie ist mindestens einmal wöchentlich mit Gewalt konfrontiert. Sie sagt: «Dies geht von Bemerkungen über den Fahrplan bis hin zu Beleidigungen. Gewisse davon – mehrheitlich von Männern – sind sexistisch und beziehen sich auf ihre Kompetenzen wie etwa: ‹Du bist ja eine Frau, ich weiss nicht, warum du überhaupt fährst’. Ich bin auch schon bedroht worden, im Stil ‘ich weiss, wie ich dich finden kann.› Gewisse Männer warten sogar auf den nächsten Bus, wenn sie eine Frau am Steuer sehen. Einige Linien sind auffälliger, dort ist weniger Respekt vorhanden. Ich melde jeden dieser Fälle in einem Bericht an den Arbeitgeber, was dieser übrigens auch verlangt. Eine zuständige Person kontaktiert uns anschliessend, um nachzufragen, ob wir psychologische Unterstützung brauchen, oder ob wir uns einfach aussprechen möchten. Wenn dies der Fall ist, gibt es einen Termin dafür, und anschliessend entscheidet die Unternehmung, ob sie eine Anzeige macht oder nicht.»

Amandas Arbeitgeber ist eher bei den Musterschülern, was die Reaktion auf Aggressionen anbelangt. Trotz diesem klaren Engagement der Geschäftsleitung wird die Information, dass Aggressionen von Amtes wegen verfolgt werden, von den Angestellten der nächsten Ebene nicht immer verstanden. Im Fall von Amanda hat keine von sechs gemeldeten mündlichen Aggressionen zu einer Anzeige geführt, was nicht im Sinne von Art. 59 PBG ist.

Amanda erzählt uns ihren letzten Fall: « Zwei Personen in einem Vierersitz haben angefangen mich zu beleidigen, als ich die Frau freundlich aufforderte, ihren Facetime-Anruf (Videotelefongespräch) mit Kopfhörern zu führen oder auf später zu verschieben. Sie hat sich genervt und mich unter anderem mit ‹Schlampe, fahr und halt die Schnauze› beschimpft. Da es sich nicht um eine physische Aggression handelte, habe ich die Türen nicht blockiert und sie konnten einfach aussteigen. Als ich den Vorfall meldete, hat man mir gesagt, man hätte die Gesichter auf dem Video nicht gut gesehen; die Polizei würde nichts machen können. Ich fand es merkwürdig, dass die Kamera so ausgerichtet ist, dass man ausgerechnet auf diesen Vierersitz, auf dem es die meisten Probleme gibt, so schlechte Sicht hat. Dies wurde zwar alles zur Kenntnis genommen, aber nachher ist nichts passiert. Das ist auch anderen Kolleg:innen passiert, teilweise mit sogar besseren Bildern, auch da gab es keine Folgen. Ich frage mich deshalb, was es im Fall von verbaler Aggression eigentlich braucht, damit Anzeige erstattet wird. Bei einer Kollegin, die physisch angegriffen wurde, haben die Vorgesetzten Anzeige erstattet. Es wäre nötig, dass auch verbale Aggressionen ernster genommen würden.»

Auch wenn es nicht einfach ist, Personen aufgrund von schlechten Videoaufnahmen zu identifizieren, macht dies, wenn eine Meldung ohne Folgen bleibt, die Aggression unsichtbar für die Statistik, die nur Fälle mit Anzeigen erfasst. Dazu kommen all jene Fälle, die der Unternehmung gar nicht gemeldet werden, sei es aus Unwissen, Zeitstress oder Fatalismus. Dies bewirkt eine Verschleierung der Aggressionen, von denen nur die Spitze des Eisbergs sichtbar ist. Der Graben zwischen realer und statistisch erfasster Gewalt ist somit enorm.

Um solche Verhaltensweisen zu bekämpfen, fände Amanda es wichtig, «dass eine Präventionskampagne gestartet würde, die darauf hinweist, dass es Menschen sind, die den Service public sicherstellen, und dass wir Respekt und Anerkennung verdienen. Wir sind solchen Vorfällen stark ausgesetzt. Manchmal hat man den Eindruck, gar nicht zu existieren. Die öV-Benutzer:innen sehen uns nicht. Diese Entmenschlichung macht es wahrscheinlich leichter, jemanden zu beleidigen. Das kann völlig beliebig sein. Es ist fast unmöglich, etwas Kritisches zu einem Kunden zu sagen, ohne beleidigt zu werden, auch wenn man es so freundlich wie möglich formuliert hat. Auch wenn ich mir im Laufe der Zeit einen Panzer zugelegt habe, müssen sich die Leute bewusstwerden, dass solche Taten uns verletzen und tief prägen können.»

Yves Sancey