| Aktuell / SEV Zeitung, Aggression und Gewalt gegen Personal

Stopp Gewalt

Aggressionen (5): Mitglieder erzählen

Als Teil der SEV-Kampagne «Stopp Gewalt – mehr Respekt für das Personal» berichten Mitglieder in der SEV-Zeitung, wie sie Übergriffe erlebt haben. In dieser Folge der Serie geht es um die Bedrohung einer Kundenbegleiterin und Aggressionen am Schalter.

Colette (Name geändert) ist seit zwei Jahren Reisezugbegleiterin bei einer Privatbahn (KTU), als sie im Frühling vor zwei Jahren an einem Nachmittag kurz vor Arbeitsende einen Mann kontrolliert, der kein gültiges Billett hat und dessen Halbtax-Abo gesperrt ist. Sie sagt ihm, dass sie eine Rechnung schreiben muss. Der knapp 40-jährige Mann mit Migrationshintergrund will sie durch Diskutieren davon abbringen. Doch sie sagt, dass sie nicht diskutieren will, entfernt sich ein paar Meter auf die Einstiegsplattform und füllt das Formular für Reisende ohne gültigen Fahrausweis aus. Dann geht sie zurück zum Kunden, um ihm das Display zum Unterschreiben hinzuhalten. Er redet aber weiter auf sie ein, sagt, sie solle anständig mit ihm reden, und droht: «Ich bin ein Mann, du bist eine Frau und ich kann auch schlagen.» Das traut sie ihm durchaus zu. Wortlos zieht sie ihr Handy aus der Tasche und informiert ihren Kollegen, den Zugchef. Er kann aber nicht sofort kommen. Also flieht sie vor dem aggressiven Kunden in den Führerstand zum Lokführer. Bald darauf fährt der Zug in den Endbahnhof ein. Unterdessen ist der Zugchef beim wütenden Kunden angekommen, der ihn fragt, wo seine Kollegin sei. Der Zugchef antwortet, er wisse es nicht. Der Kunde sagt, dass er sie schlagen werde, wenn er sie sehe, und steigt aus. Der Zugchef geht im Zug weiter zum Führerstand und trifft auf Colette. Während sie miteinander sprechen, sehen sie draussen vor dem Zug den Kunden auf- und abgehen «wie ein Tiger im Käfig», erzählt Colette. Zum Glück können die Türen von aussen nicht geöffnet werden, da der Zug erst in 40 Minuten weiterfährt. Der Zugchef alarmiert nun die Transportpolizei. Nach etwa zehn Minuten kommen drei Beamte der örtlichen Polizei und befragen den Kunden, bald stossen noch zwei Transsicura-Beamte dazu. Der Mann ist der Polizei schon bekannt und vorbestraft, doch sie lassen ihn schliesslich gehen und signalisieren Colette und dem Zugchef, dass sie aussteigen können. Colette befürchtet aber, dass ihr der Kunde irgendwo auflauert. Deshalb nimmt sie den Vorschlag der Polizisten an, mit ihnen auf den Posten zu gehen und gleich zu Protokoll zu geben, was vorgefallen ist.

Der diensthabende Beamte ist sehr freundlich und begleitet Colette nach der Einvernahme zu ihrer Garderobe und zu ihrem Auto. Obwohl es ihr nicht besonders gut geht, kann und will sie selbst heimfahren. An den beiden folgenden Tagen hat sie frei und am dritten Tag geht sie wieder arbeiten. Zum Glück ist sie auf einer anderen Linie unterwegs, doch sie fühlt sich zuerst unsicher, hat vor den Kunden «extrem Respekt». Das legt sich in den folgenden Tagen wieder. Besonders hilfreich sind für sie – neben der Unterstützung durch ihren Mann – die Gespräche mit einem Psychologen, der vom Unternehmen vermittelt und bezahlt wird. Dieses Coaching dauert mehrere Monate und trägt dazu bei, dass sie sich heute besser auf eine allfällige neue Aggression vorbereitet fühlt als vor dem Vorfall. Zum Beispiel wahrt sie konsequent zwei Armlängen Abstand, wenn ein Kunde nicht kooperativ ist, und hält sich stets einen Fluchtweg offen. Das Unternehmen hat den Mitarbeitenden übrigens klar kommuniziert, dass ihr Selbstschutz Priorität hat vor dem Eintreiben von Gebühren. Weiter trägt Colette heute auf dem Arbeitsweg konsequent private Kleidung statt der Uniform. Nach dem Vorfall war für Colette auch wichtig, dass die Vorgesetzten hinter ihr standen. Als sie vom Staatsanwalt zu einer Konfrontativ-Einvernahme vorgeladen wurde, rief sie ihren Teamleiter an und sagt ihm: «Jetzt brauche ich sofort Unterstützung!» Prompt meldete sich noch am selben Tag ein Vertrauensanwalt des Unternehmens und begleitete sie später zur Einvernahme. Dabei funktionierte der Opferschutz gut: Sie und der Kunde blieben in unterschiedlichen Räumen, die über eine Gegensprechanlage verbunden waren. Auch der Zugchef stellte sich zur Einvernahme zur Verfügung. Die Gegenklage des Kunden wurde abgewiesen und er erhielt einen Strafbefehl. Dagegen legte er zuerst Berufung ein, blieb dann aber der Gerichtsverhandlung fern, wie auch sein Anwalt (Colette wurde dazu nicht vorgeladen). Der Kunde erhielt eine Busse, eine bedingte Strafe, Gerichtskosten und Gebühren auferlegt. Die Kosten für Colettes Anwalt aber blieben am Arbeitgeber hängen.

Colette ist froh, dass sie den Behörden die Drohung zur Kenntnis brachte und dass der Kunde bestraft wurde. Mit der Arbeit der Polizei und der Behörden ist sie zufrieden, abgesehen vom Fehler der Staatsanwaltschaft, die dem Kunden ein Dokument schickte, auf dem Colettes Adresse aufgeführt war! Als sie bei der Polizei nachfragte, ob Gefahr drohe, konnte diese sie ziemlich glaubhaft beruhigen. Aus dem Erlebten zieht Colette den Schluss, dass Kundenbegleiter:innen leider stets auf eine Aggression vorbereitet sein müssen. Darum scheinen ihr regelmässige Weiterbildungen im Unternehmen wichtig – und dass man sich selbst immer wieder gedanklich mit dem Thema auseinandersetzt, im Sinne eines mentalen Trainings.

Mit Gewalt, also verbalen und physischen Übergriffen, ist auch das Schalterpersonal konfrontiert, wie Anael erzählt, die am Bahnhof von Locarno arbeitet – einem «Brennpunkt» im Tessin: «Zum Glück gibt es nicht täglich solche Vorfälle, und als Team versuchen wir immer, uns gegenseitig zu helfen, diese zu verarbeiten.» Die SBB kennt das Problem und organisiert Kurse für ihr Personal, damit es weiss, wie es reagieren soll. Unsere Gesprächspartnerin hat mehrere dieser Kurse zur Selbstbeherrschung besucht: «Wir lernen, uns mit Worten und unserer Körperhaltung zu verteidigen, ohne Gewalt anzuwenden. Es handelt sich um Bewegungen aus dem Kampfsport, die aus der Distanz ausgeführt werden, um sich zu schützen, aber ohne Kontakt. Ich muss sagen, dass sie nützlich sind und in den meisten Fällen sehr gut funktionieren», erklärt sie uns. Leider reicht es manchmal nicht aus, diese Techniken gelernt zu haben, und Anael sagt, dass sie mehr als einmal auch körperliche Gewalt erlebt hat: «Ich versuche immer, den Kundinnen und Kunden freundlich zu erklären, warum ich ihnen nicht entgegenkommen kann, aber manchmal werden sie umso wütender, je mehr ich es zu erklären versuche, und dann fangen sie an, dich am Arm zu packen, zu zerren oder zu schubsen … Manchmal reicht schon ein ausgefallener Zug oder ein verspäteter Koffer, um gewalttätige Reaktionen auszulösen. Was wehtut ist, beleidigt zu werden, obwohl wir versuchen, bei der Lösung eines Problems zu helfen, für das wir nicht verantwortlich sind.»

Wenn erboste Kund:innen an den Schalter kommen, lassen Anael und ihre Kolleg:innen sie in der Regel erst mal Dampf ablassen in der Hoffnung, dass sie sich beruhigen. Dann fordern sie sie auf, den Raum zu verlassen. Gemäss den erlernten Techniken antworten sie mit Kurzantworten wie «Stopp!», «So geht das nicht», «Bitte verlassen Sie den Raum» usw., in der Hoffnung, dass die Spannung nachlässt. Bei Bedarf kommen Kolleg:innen zu Hilfe: «Als Team versuchen wir immer, uns gegenseitig zu helfen, wenn etwas passiert. Das grosse Problem heute ist, dass die Polizei nicht mehr rechtzeitig eintreffen kann.» Wenn Transportpolizist:innen im Bahnhof präsent sind, ist laut Anael eine abschreckende Wirkung spürbar und die Situation ist ruhiger. Ihrer Meinung nach stellt die SBB den Mitarbeitenden durchaus wirksame Instrumente zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen, sich zu schützen bzw. zu wissen wie, aber manchmal eskalieren Situationen trotzdem. «Vor kurzem rastete zum Beispiel eine ältere Person plötzlich aus. Darauf war ich nicht vorbereitet und konnte daher nicht so reagieren, wie ich es gelernt hatte. Der betreffende Herr zerrte mich am Arm und beleidigte mich, weil sein Koffer verspätet angekommen war. Der Vorfall hat mich für den Rest des Tages aufgewühlt und erschüttert.»

Anael erzählt von einem weiteren Vorfall, der sie stark geprägt hat, weil sie sich wirklich in Gefahr fühlte. Sie war mit Zwillingen schwanger, als eine Kundin an den Schalter kam, um eine Rückerstattung zu beantragen: «Dann fing sie an, mich zu schubsen und zu beleidigen. Sie zerbrach den Schirmständer, der im Raum stand … Wir schafften es, sie hinauszubegleiten. Doch ich musste andere Kund:innen zum Billettautomaten ausserhalb des Raumes begleiten, und jedes Mal verfolgte mich die Frau wieder. Das ging eine ganze Weile so weiter, ich hatte Angst, dass sie mich zu Fall bringt und meinen Kindern etwas zustösst.» Zum Glück ging die Frau schliesslich weg, aber das Gefühl der Angst und Unsicherheit, das Anael an jenem Tag empfand, ist ihr bis heute in Erinnerung geblieben.

Markus Fischer und Veronica Galster