Belästigung am Arbeitsplatz: Nur die Spitze des Eisbergs ist bekannt
Belästigung am Arbeitsplatz ist ein ernstes und weit verbreitetes Problem, das schwerwiegende Folgen für die Opfer und das Arbeitsumfeld haben kann. Leider sind die Fälle, die vor Gericht verhandelt werden, nur die Spitze des Eisbergs. Oft werden Probleme heruntergespielt und entscheiden sich Opfer trotz allem, Belästigungen nicht zu melden. Unternehmen sind verpflichtet, wirksame Massnahmen gegen Belästigungen zu ergreifen und im gegebenen Fall richtig zu handeln. Sie müssen ein Klima des Respekts schaffen und Whistleblowing nicht sanktionieren. Ein Gespräch mit der Anwältin Valerie Debernardi.

Was versteht man unter sexueller Belästigung am Arbeitsplatz?
In der Schweiz regelt das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) den Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Artikel 4 hält fest: «Diskriminierend ist jedes belästigende Verhalten sexueller Natur oder ein anderes Verhalten aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, das die Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz beeinträchtigt. Darunter fallen insbesondere Drohungen, das Versprechen von Vorteilen, das Auferlegen von Zwang und das Ausüben von Druck zum Erlangen eines Entgegenkommens sexueller Art.». Diese Definition ist bewusst sehr allgemein und weit gefasst und schliesst anzügliche Witze und sexistische Bemerkungen ein. So ist z. B. ein Scherz oder ein Kommentar über den Körperbau von Kolleg:innen gemäss dem Gesetz eine Belästigung.
Weiter kann man sich auf die Rechtsprechung und das internationale Recht stützen, die spezifischer sind. Ich denke, Opfer sind sich immer über eine Belästigung im Klaren, wenn sie davon betroffen sind. Und die Täter tun einfach so, als wüssten sie es nicht. Im Allgemeinen handelt es sich jedoch um ein Verhalten, das eine gesunde Atmosphäre am Arbeitsplatz verhindert.
Sind in der Schweiz gewisse Belästigungen am Arbeitsplatz häufiger als andere?
Das ist schwer zu sagen. Was wir sehen und wovon wir wissen, ist nur die Spitze des Eisbergs, denn leider ist es immer noch sehr schwierig, eine Beschwerde einzureichen. Nur ein Bruchteil der Belästigungen landet vor Gericht, aber ich fürchte, dass anzügliche und sexistische Witze an vielen Arbeitsplätzen an der Tagesordnung sind, ohne dass jemand etwas sagt. Wenn ein Fall vor Gericht kommt, handelt es sich oft um eine sehr ernste Sache. Ich hatte schon Fälle, bei denen es zunächst um anzügliche Witze oder unaufgeforderte Einladungen ging, die sich dann im weiteren Verlauf als schwerwiegendere Tatsachen herausstellten. Generell kann man sagen, dass sexuelle Belästigung am häufigsten Frauen und Minderheiten der LGBTQ+-Gemeinschaft betrifft.
Welche Pflichten haben Arbeitgeber, um Belästigungen am Arbeitsplatz zu verhindern und zu bekämpfen?
Der Arbeitgeber hat eine Pflicht zur Prävention. Er muss sicherstellen, dass alle seine Mitarbeitenden wissen, was Belästigung ist und dass sie verboten ist. Wenn er von Belästigungen erfährt, muss er wirksame und angemessene Untersuchungen durchführen, ohne dass dadurch ein Arbeitsklima entsteht, das dem Whistleblowing feindlich gesinnt ist: Wenn sich die Mitarbeiter:innen nicht berechtigt fühlen, Meldung zu machen, ist dies bereits ein Verstoss. Der Arbeitgeber kann sich nicht einfach hinter dem Satz «Ich wusste es nicht» verstecken, vor allem dann nicht, wenn sich herausstellt, dass das Arbeitsumfeld die Meldung von Missständen verhindert.
Was kann eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer tun, wenn sie oder er das Gefühl hat, belästigt zu werden?
Das hängt vom jeweiligen Kontext ab. Zunächst ist es wichtig, dass die Person mit ihren Vorgesetzten und der Personalabteilung darüber spricht, um zumindest den Versuch einer Meldung zu unternehmen. Wenn sich dies als zu schwierig oder gar unmöglich erweist, kann sich die Person an ihre Gewerkschaft wenden. In jedem Fall gilt: Je mehr die Person darüber spricht, desto mehr schützt sie sich vor möglichen Vergeltungsmassnahmen für ihre Meldung.
Wird das Opfer entlassen oder zur Kündigung gedrängt, stehen ihm hauptsächlich zwei Wege offen: ein zivilrechtliches Verfahren (Arbeitsrecht) oder ein strafrechtliches Verfahren. Im ersten Fall wird der Arbeitgeber beschuldigt, die betroffene Person nicht wirksam geschützt oder keine Präventivmassnahmen zur Vermeidung von Mobbing ergriffen zu haben. Im zweiten Fall ist es der oder die Täter:in, der/die sich für seine/ihre Handlungen verantworten muss. Wenn der Arbeitgeber auch der Belästiger ist, gibt es einen speziellen Artikel im Strafgesetzbuch. Beide Verfahren schliessen sich jedoch nicht gegenseitig aus.
Häufig fühlen sich Opfer mehr durch den fehlenden Schutz des Arbeitgebers als durch die Belästigung selbst verletzt und entscheiden sich in diesem Fall für ein zivilrechtliches Verfahren, selbst wenn es sich um eine schwere Belästigung handelt.
Veronica Galster
Zur Person
Valerie Debernardi ist auf das Arbeitsrecht spezialisiert. Sie unterstützt Einzelpersonen, Gewerkschaften und andere Organisationen bei strategischen Rechtsstreitigkeiten vor kantonalen und nationalen Gerichten. Sie ist an gerichtlichen und aussergerichtlichen Verfahren beteiligt, insbesondere in Fällen von Diskriminierung und Menschenschmuggel. Sie berät regelmässig Arbeitnehmer:innen in ihren Beziehungen und Verhandlungen mit Arbeitgebern und unterstützt Institutionen bei der Analyse von Verordnungen und anderen gesetzlichen Bestimmungen.
Sie war früher als Juristin für Unia tätig, nahm an Verhandlungen über Gesamtarbeitsverträge teil und vertrat Mitglieder vor arbeitsrechtlichen Instanzen. Mitglied des Netzwerks von Anwälten und NGOs des Europarats, die spezialisiert sind auf die Unterstützung von Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Vorstandsmitglied der Association Viol-Secours und der Association des juristes progressistes (AJP).