| Aktuell / SEV Zeitung, Aggression und Gewalt gegen Personal

Aggressionen (4): Mitglieder Erzählen

Schlag ins Gesicht

Als Teil der SEV-Kampagne «Stopp Gewalt – mehr Respekt für das Personal» berichten Mitglieder in der SEV-Zeitung über Aggressionen. Diesmal geht es um einen Schlag ins Gesicht eines Buschauffeurs während der Fahrt.

An einem Mittwochabend um 22.30 Uhr steigt ein Mann hinten in Martins Bus (Name geändert). Eine Passantin klopft an Martins Fenster und sagt, der Betrunkene müsse im Dorf X aussteigen. Nach der Abfahrt hat Martin den Eindruck, dass der Betrunkene schläft. Martin hält an einer Station und fragt den Mann, an welcher Station er im Dorf X aussteigen muss, damit er ihn wecken kann. Der etwa 40-Jährige versteht nicht und fragt Martin, ob er ein Problem habe und ob er Feuer habe. Martin antwortet, er habe kein Feuerzeug, weil er nicht rauche, und im Bus sei Rauchen nicht erlaubt. Der Mann antwortet mit negativem Unterton, er wolle gar nicht rauchen. Weil er aufgestanden ist, rät ihm Martin, während der Fahrt zu sitzen. Auch das versteht der Mann nicht.

Martin kehrt ans Steuer zurück und fährt weiter. Im Bus befinden sich drei Fahrgäste. Im Rückspiegel sieht Martin, dass der Betrunkene immer wieder aufsteht. Später kommt er nach vorn und fragt eine Passagierin, ob sie Feuer habe. Sie antwortet nicht, er geht zurück und sagt plötzlich: «Jetzt habe ich ein Feuerzeug», raucht aber nicht. Bald kommt der Mann wieder nach vorn, stellt sich neben Martin und versetzt ihm plötzlich einen Schlag ins Gesicht. Martin erschrickt und bremst heftig. Der Mann fliegt in die Frontscheibe, auf der sich ein Spinnennetz bildet, während der Bus auf der Strasse hält. «Wir waren mit 50 bis 60 km/h unterwegs und rechts war der Fluss!», erzählt Martin. Kaum hat sich der Mann vom Sturz erholt, schlägt er weiter auf Martin ein. Dieser wehrt ab, zieht sich möglichst weit vom Mann zurück, öffnet die Fahrzeugtür und versucht hinauszukommen, während der dritte Fahrgast den Mann zu beruhigen versucht. Der Mann hält sich an Martins Kleidern fest, kommt mit hinaus und fällt dort um. Martin geht zurück in den Bus und versucht die Türe zu schliessen, doch der Mann ist schon in der Lichtschranke der Fahrzeugtüre, nach vier Versuchen geht die Tür zu. Draussen gestikuliert der Mann und geht auf und ab. Nach ein paar Minuten trifft die Polizei ein, die von den beiden Fahrgästen alarmiert wurde. Der Mann ist gegenüber den zwei Beamten ziemlich renitent. Sie legen ihm Handschellen an. Später kommen zwei weitere Polizisten dazu, und der Mann wird in eine Ausnüchterungszelle gebracht. Später befragt ihn die Polizei und leitet ein Offizialdeliktverfahren gegen ihn ein.

Alarmknöpfe ohne Wirkung

Inzwischen ist auch Martins Chef eingetroffen, der in der Nähe wohnt. Martin hatte ihn angerufen, da sich von der Zentrale trotz Betätigung des Überfall- und Notfallknopfs niemand gemeldet hatte. Der Chef übernimmt den Bus, um die Passagiere nach Hause zu fahren. Er überlässt Martin sein Auto, damit dieser zur Notfallstation des Regionalspitals fahren und seinen Kopf untersuchen lassen kann, denn dieser schmerzt, wenn auch nicht stark. Der Arzt stellt einen Jochbogenbruch fest. Eine genauere Untersuchung werde zeigen, ob operiert werden müsse. Martin bleibt im Untersuchungszimmer, ruft die Polizei an und verlangt einen Atem-Alkoholtest, wie dies bei Unfällen Standard ist, denn er will sich gegen den Vorwurf der Trunkenheit absichern. Gegen 2 Uhr nimmt ein Polizist den Atemalkoholtest an ihm vor und befragt ihn auch gleich zur Aggression. Gegen 5 Uhr geht Martin nach Hause. Da er nur leichte Schmerzen hat, geht er am übernächsten Tag arbeiten. Danach hat er zwei Wochen Ferien. Doch bald zeigt die zweite Untersuchung des Jochbeins, dass dieses operiert werden muss. Martin wird ein paar Tage später unter Vollnarkose operiert. Am dritten Tag kann Martin wieder nach Hause und darf auf eine vollständige Heilung hoffen.

Martin sorgt auch dafür, dass die Fahrzeugdaten vor der Löschung ausgelesen werden, weil er befürchtet, dass ihm der Angreifer vorwerfen könnte, er sei zu schnell gefahren.

Debriefing

Für Martin ist das Debriefing mit den Vorgesetzten wichtig, um aus dem Vorfall Lehren ziehen zu können. Für ihn ist klar, dass nach dem Drücken der Notfallknöpfe Hilfe kommen muss. «Wenn ich als Fahrer befürchten muss, dass ich alleingelassen werde, ist dies sehr belastend», findet er. Im vorliegenden Fall wurden diese Notrufe in der Nacht auf die Zentrale eines anderen Unternehmens umgeleitet und dort als Fehlalarm interpretiert. Mit dem Unternehmen wurde neu schriftlich vereinbart, dass bei jedem Notruf zwingend eine Person bis zum Bus gehen muss. Zudem will der Betrieb künftig in solchen Fällen Mitarbeitende mit juristischer Beratung unmittelbar begleiten.

Martin fände es auch «nicht falsch», die Fahrer:innen mit einem Pfefferspray auszurüsten. Gut findet er, dass der Umgang mit Aggressionen am jährlichen Ausbildungstag des Fahrpersonals thematisiert wird. Und er würde allen Kolleg:innen raten, sich regelmässig vorzustellen, wie man bei einer Aggression reagieren soll. «Denn eine Aggression kann jederzeit aus dem Nichts kommen.» Im vorliegenden Fall hätte er die Polizei vielleicht präventiv bitten sollen, den Betrunkenen im Dorf X in Empfang zu nehmen.

Wichtig ist für Martin auch, dass sein Unternehmen den Aggressor in einem eingeschriebenen Brief verwarnt hat; dies bedeutet, dass er im Wiederholungsfall nicht mehr transportiert würde. «Das ist eine Wertschätzung gegenüber dem Personal und hat präventive Wirkung», denkt Martin.

Rechtliche Fragen

Anfänglich ist sich Martin nicht im Klaren, ob er zusätzlich zum laufenden Offizialdeliktverfahren auch selbst eine Strafklage gegen den Angreifer einreichen soll, um im Namen aller Berufskolleg:innen ein Zeichen zu setzen, nicht der finanziellen Entschädigung wegen. Doch weder sein Arbeitgeber noch der SEV bzw. deren Rechtsschutzversicherungen unterstützen ihn dabei. So fühlt sich Martin ein wenig im Stich gelassen und findet schliesslich nach einem Gespräch bei der Opferberatung, dass sich der nötige persönliche Aufwand dafür nicht lohnt.

Franziska Schneider, Leiterin Rechtsdienst beim SEV, erklärt: «Der SEV unterstützt Mitglieder beim Offizialdeliktverfahren: In diesem Verfahren können sich Betroffene als Privatkläger konstituieren und je nach Ausgestaltung selber auch Anträge stellen. Dies kann dann hilfreich sein, wenn anschliessend allfällige Schadenersatzforderungen im zivilrechtlichen Verfahren einzuklagen sind – und dabei hätte der SEV Martin unterstützt, wenn er es gewünscht hätte. Die Mitteilung, dass Betroffene sich als Privatkläger konstituieren wollen, erfolgt direkt über das Anzeigeformular für das Offizialdelikt. Eine andere Ausgangslage besteht jedoch dann, wenn Betroffene private strafrechtliche Klagen ausserhalb des Offizialdelikts angehen möchten – wie von Martin erwogen. Hier steht nicht mehr die eigentliche Aggression im Vordergrund, sondern das Verhalten der Täterschaft gegenüber Betroffenen, insbesondere bei Gegenklagen des Aggressors. Das wird als aktives Strafrecht bezeichnet und hat nichts mit Arbeitsrecht zu tun. Eine solche Klage unterstützt weder der SEV noch eine Haftpflichtversicherung, auch nicht die Coop-Multirechtsschutz.»

Abgesehen von diesen anfänglichen Unklarheiten war Martin aber zufrieden mit der Unterstützung, die er vom SEV erhalten hat.

Filmriss

Inzwischen ist der Angreifer überraschend bei Martin im Bus aufgetaucht und hat ihm erklärt, dass er Medikamente nehmen müsse, die in Verbindung mit Alkohol zu einem «Filmriss» führten, er erinnere sich an nichts. Auch wenn dies die Aggression nicht wirklich entschuldigt, nimmt Martin die Entschuldigung des Mannes an. «Ich rechne es ihm hoch an, dass er die Grösse hatte, sich bei mir zu entschuldigen.» Martin sagt ihm aber auch, dass das Offizialdeliktverfahren von Amtes wegen läuft, und findet dies auch richtig so.

Markus Fischer