Aggressionen im touristischen Verkehr
Tourismus: Wenn der Respekt leidet
Der zunehmende Tourismus bringt nicht nur volle Fahrzeuge, sondern kann auch zu einer höheren Belastung für das Personal werden. Auch wenn es bisher nur vereinzelt zu Aggressionen gegen Mitarbeitende kommt, sind die Gründe dafür vielfältig: Gedränge, Sprachbarrieren, hohe Erwartungen. Gerade auch durch Netflix oder Influencer bekannt gewordene Orte erleben einen regelrechten Ansturm an Individualreisenden. Zuweilen spricht man von «Overtourism», also sogenanntem Übertourismus. SEV-Gewerkschaftssekretär Toni Feuz erklärt im Interview, wo aus seiner Sicht die Ursachen für zunehmende Aggressionen liegen und welche Massnahmen es braucht, um das Personal wirksam zu schützen.

Welches sind die häufigsten Formen von Übergriffen und Aggressionen, die in touristischen Verkehrsmitteln vorkommen? Kannst du uns von konkreten Beispielen berichten?
Es gab tatsächlich schon einen Vorfall, bei dem ein Kollege der Schifffahrt angespuckt wurde. In einem anderen Fall musste die Polizei am Ankunftsort einen Fahrgast vom Schiff begleiten, der aus unerfindlichen Gründen randaliert und sogar einen Glasschaden verursacht hatte. An Talstationen von Bergbahnen kommt es oft zu einem Gedränge, sodass das einweisende Personal Mühe hat, sich durchzusetzen. Hinzu kommen je nach Herkunftsland Verständigungsprobleme mit Gästen. Wo Argumente fehlen, die Kommunikation sprachlich herausfordernd ist, wird manchmal mit Lautstärke kompensiert.
Gibt es Statistiken?
Nicht dass ich wüsste. Möglicherweise werden Vorfälle – glücklicherweise sind es bisher Einzelfälle – von den Unternehmungen erfasst.
Gab es eine Zunahme von Übergriffen in den letzten Jahren? Wenn ja, wie erklärt ihr euch diese Entwicklung?
Das Phänomen des sogenannten «Overtourism» zeigt sich in vielen Facetten, seien es übervolle Zubringerzüge, dramatische Gepäcksituationen oder ungeduldige Gäste, die sich – für unser Empfinden unangenehm – vordrängeln.
Apropos Übertourismus: Spielt demnach ein sehr hoher Gästeansturm eine Rolle bei der Entstehung von Konflikten und Übergriffen?
Auf jeden Fall, der gegenseitige Respekt kann leiden. Zu beobachten war in den letzten Jahren eine Verlagerung von organisierten Gruppenreisen hin zum Individualtourismus. Konflikte entstehen etwa, wenn grosse Gruppen mit viel Gepäck, das nicht korrekt verstaut werden kann, in den Zug steigen, aber auch aufgrund von Gedränge oder hohen Lärmpegels, wenn viele Kinder mitreisen.
Die Covid-Pandemie brachte hier eine Änderung: Vorher reisten Gäste, zum Beispiel aus China, Korea oder anderen asiatischen Ursprungsländern, sehr oft als organisierte und begleitete Gruppen. Sie machten einen Ausflug oder eine Zugsfahrt, und ihr Gepäck reiste derweil im Car an den nächsten Ort. In den letzten Jahren hat der Anteil an Individualreisenden jedoch stark zugenommen. Eine besonders populäre Destination ist Iseltwald, das durch eine Netflix-Serie bekannt wurde.
Durch individuelles Reisen sind die Fahrgäste oft mit einem oder sogar zwei grossen Koffern pro Person unterwegs. Zudem reisen beispielsweise indische Gäste nicht mehr ausschliesslich während den «Monsunmonaten» Mai und Juni, sondern ganzjährig. Dass es dadurch zu (mehr) Vorfällen kommt, ist zwar nicht belegt, aber die Anspruchshaltung gewisser Fahrgäste kann sehr ausgeprägt sein, was etwa bei Billettkontrollen zu Diskussionen führt. Im Verhältnis zu der Gesamtzahl der Reisenden sind dies jedoch Einzelfälle.
Welche Rolle spielt der Druck, den Mitarbeitende im touristischen Sektor erfahren?
Ich mache die Erfahrung, dass die meisten Unternehmen ihr Personal sehr gut schulen und auf herausfordernde Gäste und Situationen vorbereiten. Die Unternehmen sind natürlich erpicht darauf, ihr Gästesegment auch überkontinental zu erweitern. Entsprechend weisen sie ihr Personal auch an, den Gastgeber zu verkörpern. Doch die schiere Masse an Reisenden macht es manchmal schwierig, zu jeder Zeit adäquat zu handeln.
Wo stehen die Unternehmen in der Pflicht? Was können sie tun, um Übergriffe zu verhindern oder den Mitarbeitenden besser zu schützen?
Vom bereits genannten Beispiel Iseltwald wissen wir, dass es die Unternehmen in der Hand haben, die Situation zu entschärfen: Die Postauto AG, die diese Strecke bedient, hat auf den Ansturm asiatischer Touristinnen und Touristen reagiert und setzt deshalb mehr Fahrpersonal und grössere Fahrzeuge auf der Linie, die nach Iseltwald fährt, ein. Auch saisonale Taktverdichtungen sind ein Mittel, zu dem sie nach Möglichkeit greifen können. Ein Beispiel einer zielführenden Massnahme ist die bessere Signalisation von Abteilen erster Klasse bei der Zentralbahn (ZB). Dies führt dazu, dass weniger Reisende zum Kauf eines Klassenwechsel-Billetts angehalten werden müssen. Ebenfalls sehr hilfreich sind punktuelle Kundenlenkungen bei Grossandrang.
Eva Schmid